Die Barmherzigkeit gegenüber dem Innenleben lernen

Es ist eine interessante Beobachtung: Immer wieder suchen wir nach Stille, weil wir sie brauchen und in manchen Zeiten haben wir sogar Sehnsucht nach ihr. Dann aber, wenn wir in die Stille eintreten, halten wir sie kaum aus und fliehen vor ihr. Die Stille öffnet die Tür zu unserem Innenleben: Plötzlich erhebt sich in uns viel Lärm und Getöse. Und diese Erfahrung kann einen so bedrängen, dass man die Stille verlässt. Stattdessen suchen wir dann Ablenkungen und Beschäftigungen. Sich selbst auszuhalten und – mehr noch – bei sich zu wohnen, das ist mitunter nicht einfach. Dieser Umstand kann so weit führen, dass man durch einen rein äußerlich bleibenden Aktivismus vor sich selbst davonläuft.

Das Verweilen in der Stille öffnet die Tür zu unserem Innenleben. Was sich an Lärm und Getöse erhebt, setzt uns zunächst einmal zu. Von welcher Art sind dieser Lärm und dieses Getöse?

Es sind der Lärm der Bedürfnisse und das Getöse des Grolls: Der Gedanken- und Bilderstrom an Bedürfnissen offenbart die vielen unbefriedigten Wünsche und Sehnsüchte, die Bildergeschichte des Grolls enthüllt unsere zahlreichen verletzten, gebrochenen und ungelösten Beziehungen. Wenn ich dennoch in der Stille verbleiben will, was kann ich tun?

Im Evangelium nach Matthäus sagt Jesus, als er dafür kritisiert wird, den Zöllner Matthäus berufen und mit ihm Mahl gehalten zu haben: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer! Denn ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“ (Mt 9,12f)

Dem inneren Lärm und Getöse ist nicht beizukommen, indem ich sie im Geiste fessle und opfere, töte, schlachte, verbrenne. Die geistliche Erfahrung lehrt: Indem ich mich ihnen gegenüber ablehnend verhalte (“Das darf nicht sein!“), binde ich mich an sie und verstärke ihre Wirkung. Was wir tun können, ist dies: Barmherzig zu unserem Innenleben zu sein und seinen Lärm und sein Getöse als Freunde zu behandeln.

Wie kann das geschehen?

Indem ich sie wahr sein lasse, indem ich hinhöre, was sie mir sagen. Der Strom der Bedürfnisse spricht: „Ich habe viele Wünsche, die nicht erfüllt werden.“ Die Bildergeschichte des Grolls sagt: „Ich will geachtet, angenommen und geliebt werden.“ Statt unsere Bedürfnisse und unseren Groll als ungebetene Gäste zu betrachten oder als Feinde zu bekämpfen oder als “Opfer“ darzubringen, sollten wir anerkennen: Ja, da ist etwas in mir, das der Befreiung und Heilung bedarf. Das ist ein Akt der Selbsterkenntnis. Sie führt zur Selbstannahme und geleitet im Raum der Stille zum Strom der Liebe hin, in dem Bedürfnisse und Groll auf ihren Kern hin gereinigt und gewandelt werden. Dieses Geschehen braucht viel Geduld. Seine Wirkung entfaltet sich in einer tieferen Reife, in einer geerdeten Liebe und in einem Frieden, der auf meine Umwelt ausstrahlt.

 

Frater Gregor Schwabegger OCist